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Jäger, Sammler – Mörder?

Redakteurin Nachrichten & Gesellschaft
Ein Missionar betritt die Sentinel-Insel und wird getötet. Forscher berichten über die Bewohner

Mein Name ist John. Ich liebe euch, und Jesus liebt euch“, soll der 27-jährige John Allen Chau bei seiner ersten Fahrt den Stammesangehörigen zugerufen haben. Als der US-Amerikaner einen Tag später ein zweites Mal mit seinem Kajak auf die Sentinel-Insel kam, wurde er von den Eingeborenen mit Pfeilen beschossen und tödlich verletzt. Das Letzte, was örtliche Fischer von ihm sahen, war, dass der selbst erklärte Missionar ein Seil um den Hals hatte und von einem der Ureinwohner hinter sich hergezogen wurde. Später sei seine Leiche am Strand der Insel begraben worden, so die Aussage der Beobachter.

Warum wurde John Allen Chau getötet? Und wer sind die Sentinelesen, jenes jahrtausend- alte Urvolk, das nun aus gerade mal noch 150 Menschen bestehen soll und seit Jahrhunderten isoliert in einem offiziell geschützten Gebiet der Andamanen-Inselgruppe im Indischen Ozean lebt? Ethnologen beobachten den Stamm schon seit Jahren. So etwa Vishvajit Pandya, der die Insel selbst genau einmal betreten hat, wie er 2010 in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ verriet. Die Sentinelesen, so erläuterte Pandya, seien Jäger und Sammler, die in den vergangenen 25 Jahren jeden Kontakt mit der Außenwelt abgelehnt hätten. Versuche, die Indigenen zu kontaktieren, habe es viele gegeben, erklärt er weiter.

Am Samstag machten sich Polizisten per Boot auf in Richtung der Insel. Bis auf 400 Meter fuhren sie heran. Dann kehrten sie um, um eine Konfrontation zu vermeiden. Mit Pfeil und Bogen bewaffnete Männer des Inselvolkes hatten die Beamten vom Strand aus bereits beobachtet. Immer wieder waren Menschen, die sich zu nähern versuchten, mit diesen Pfeilen attackiert worden. Darunter eine Helikopterbesatzung, die 2004 nach dem Tsunami in der Region nach Überlebenden suchte.

Zum Erstaunen der Forscher hatten die Indigenen die Naturkatastrophe überlebt, womöglich, weil sie durch ihre Naturnähe entsprechende Vorzeichen richtig gedeutet hatten. Was die Forscher besonders fasziniert: Offenbar konnte der Stamm auch sein Feuer schützen. Ethnologe Pandya fasste sein Wissen über den Stamm so zusammen: „Wir wissen zum Beispiel nicht, ob die Sentinelesen das Feuermachen beherrschen. Sie scheinen es jedenfalls eifersüchtig zu verstecken und zu schützen. Sie scheinen nur bis zwei zu zählen und größere Mengenverhältnisse anders zu beschreiben. Es ist nicht bekannt, ob oder in welcher Form sie eine Religion besitzen. Sie scheinen keine Häuser zu bauen, sondern in kurzlebigen Unterständen zu schlafen.“ Eindringlinge und Neugierige, die die Insel zu betreten versucht hätten, habe es immer gegeben. Den ersten Kontakt und entsprechende Aufzeichnungen darüber gab es vor 1000 Jahren, durch arabische und chinesische Eroberer. 2006 starben zwei indische Fischer, die dem Gebiet der Sentinelesen zu nahe kamen. Sie wurden ebenfalls mit Pfeilen beschossen. Für gewalttätig hält Pandya das Volk aber nicht. „Sich vor Fremden schützen zu wollen ist (...) ein menschlicher Instinkt. Warum nehmen wir überhaupt an, dass die Sentinelesen uns mit offenen Armen begrüßen, singend und tanzend, als wären wir Kapitän Cook?“ Die Sentinelesen würden eher mit dem Abschuss von Pfeilen drohen, „als sie tatsächlich von der Sehne schnellen zu lassen. Die Pfeile sind zur Jagd auf Tiere gemacht, nicht auf Menschen“.

Forscher weisen darauf hin, dass der Kontakt des Urvolkes mit unserer Zivilisation für die Sentinelesen verheerende Folgen haben könnte: Selbst einfachste Infektionskrankheiten können isoliert lebende Populationen binnen kürzester Zeit auslöschen. Die Sentinel-Insel gehört zu den indischen Andamanen und liegt etwa 50 Kilometer westlich der Hauptstadt des Archipels. Mit einer Fläche von rund 75 Quadratkilometern ist die Insel nur etwa ein Zwölftel so groß wie Berlin. Nach Angaben der Organisation Survival International, die sich für den Schutz indigener Völker einsetzt, stammen die Sentinelesen von den ersten Gruppen des Homo sapiens ab, die von Afrika in andere Erdteile wanderten. Auf den Andamanen leben sie demnach bereits seit 60.000 Jahren. Andere Experten halten dies nicht für erwiesen, gehen aber zumindest davon aus, dass die Sentinelesen bereits seit mehreren Tausend Jahren dort siedeln. Chau schrieb kurz vor seinem Tod nieder, dass die Inselbewohner etwa 1,65 Meter groß und ihre Gesichter mit gelbem Puder bemalt seien. Die Sentinelesen sind ein Volk der Jäger und Sammler und finden ihre Nahrung im Wald, der praktisch ihre gesamte Insel bedeckt, sowie im Meer. Laut Survival International ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die Entwicklung der Sentinelesen in der Steinzeit stehen geblieben ist. So verwendeten sie mittlerweile auch Metall, das sie auf Schiffswracks finden oder das angespült wird. Bei der Expedition des Anthropologen T. N. Pandit im Jahr 1967 auf die Sentinel-Insel habe er eine Siedlung mit 18 Hütten und großen Lebensmittelvorräten gesehen, darunter Früchte und geräucherter Fisch.

Grundsätzlich sei die Neugier unserer „zivilisierten“ Welt, so Ethnologe Vishvajit Pandya damals in der „FAZ“, deutlich größer als die des Urvolkes. Pandya fand schon 2010 warnende Worte zum Umgang mit einem der letzten verbliebenen Urvölkern des Planeten: „Wir müssen aufpassen, dass wir aus ihnen nicht einen Mythos machen, der eine aus anthropologischer Perspektive verantwortungslose Außenwelt neugierig auf die ‚Steinzeitmenschen‘ macht. Man kann die Sentinelesen schon jetzt auf YouTube sehen, christliche Websites erkennen in ihnen die letzten Kinder Gottes.“

Genau das war auch das Motiv, die Hybris des jungen Missionars, der sich auserwählt fühlte, die vermeintlich Wilden zu Gott zu bekehren, und dafür mit dem Leben bezahlte. Wahrhaft versöhnlich meldete sich derweil Chaus Familie auf Instagram zu Wort. John Allen Chau liebte „Gott, das Leben, Schwachen zu helfen und er hatte nichts als Liebe für das Volk der Sentinelesen“, heißt es dort. Und weiter: „Wir vergeben denen, die für seinen Tod verantwortlich sind.“

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